20. October 2022

Der Deutschland-Fehler: Kein Ernstfall wurde je wirklich ernst genommen. Dr. Joachim Weber in Gastbeitrag bei Focus Online Der Deutschland-Fehler: Kein Ernstfall wurde je wirklich ernst genommen. Dr. Joachim Weber in Gastbeitrag bei Focus

Dr. Joachim Weber in a guest article for Focus Online: ''German security policy is standing there with its trousers down. Putin's invasion of Ukraine showed that all too clearly. Our country is in no way seriously prepared for an emergency. What is now urgently needed militarily.''

Dossier Ukraine
Dossier Ukraine © CASSIS
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Die deutsche Sicherheitspolitik steht mit heruntergelassen Hosen da. Das hat Putins Überfall auf die Ukraine nur allzu deutlich gezeigt. Für den Ernstfall ist unser Land in keiner Weise ernsthaft vorbereitet. Was jetzt militärisch dringend geboten ist.


Die am 24. Februar 2022 eingetretene „Zeitenwende“ markiert nicht nur den Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, sie steht auch für den Offenbarungseid der deutschen Sicherheitspolitik und ihr krachendes Scheitern. Ein Scheitern, das nicht nur eine militärische Dimension hat, sondern in einem umfassenden Sinne offen legt, dass die Bundesrepublik Deutschland keinen Ernstfall je wirklich ernst genommen hat - auch nicht in Fragen der Energiepolitik, der kritischen Infrastrukturen wie zum Beispiel Pipelines noch der hybriden oder sonstiger Bedrohungen.
Und dies geschieht nur kurze Zeit, nachdem die Unfähigkeit zum Krisenmanagement in der Migrations- und dann in der wenige Jahre später folgenden Coronakrisedieses Gemeinwesen bereits schwer erschüttert hatten. Allen diesen Krisen ist gleich, dass enorme Mittel aufgewendet werden müssen, welche die zuvor durch Schleifenlassen erzielten Einspareffekte völlig konterkariert haben.

Deutschland „von Freunden umgeben“ - eine Fehleinschätzung

Den Totalschaden des eigenen Hauses zu sanieren, ist und bleibt immer teurer, als die rechtzeitige Erledigung von einigen regelmäßigen Überprüfungen, Korrekturen und Vorbereitungen. So vermeidet man, plötzlich Wegwerfartikel wie FFP2-Masken in Chinafür Milliardensummen zu erwerben oder bei den US-Rüstungskonzernen zur plötzlichen Shoppingtour anzutreten. Doch es geht hierbei nicht primär ums Geld, es geht vor allem um Mentalitäts- und Realitätsdefizite.
Zu denen in der Sicherheitspolitik ist an dieser Stelle einiges zu sagen. Wir kommen in Deutschland aus einer Lagewahrnehmung, in welcher im Politikbetrieb parteiübergreifend davon ausgegangen wurde, dass das Land nur noch „von Freunden umgeben“ sei und jeder sich anbahnende, größere Konflikt eine jahrelange Vorwarnzeit eröffne, in der man kurzerhand wieder die fehlende Verteidigungsfähigkeit des Landes nachinstallieren könne.
Das war zu Beginn der 2010er-Jahre eine vielleicht noch vertretbare Position, aber was nützen die Vorbereitungszeiten, wenn sie nicht genutzt werden und man die Flammenschrift an der Wand nicht auslesen will oder mag? Es scheint für viele eine Zumutung, in ihrer Realitätsverweigerung gestört zu werden.


Wehrhaftigkeit wurde nicht ernsthaft erhöht


Putins erster Überfall auf den Osten der Ukraine geschah bekanntlich 2014, und zwei unionsgeführte Kabinette haben danach wenig getan, um die Wehrhaftigkeit des Landes wirklich ernsthaft zu erhöhen, während Teilen der damaligen Opposition das Kaputtsparen der Bundeswehr gar nicht schnell genug gehen konnte. Zugleich wurde die energiepolitische Abhängigkeit von Russland beim Gas noch von 40 auf 55 Prozent gesteigert.
Während die umfassende Analyse dieser und anderer Defizite die Historiker noch lange beschäftigen wird, soll hier in einigen kurzen Thesen schlaglichtartig aufgezeigt werden, wovon wir ausgehen sollten (Lage) und was militärpolitisch jetzt zu tun wäre:

Die Einbindung Deutschlands in die EU und das transatlantische Bündnis bleibt Dreh- und Angelpunkt deutscher Politik, weil realistische Alternativen auch weiter nicht zu sehen sind.
Dieser Bezugspunkt deutscher Politik ist aber akut gefährdet. Die EU steht im Ukrainekrieg noch einigermaßen zusammen, aber Bruchlinien zwischen Mitgliedern und Staatengruppen sind unübersehbar. Und das transatlantische Bündnis, so revitalisiert es derzeit scheint, ist dennoch akut gefährdet. Erschiene in gut zwei Jahren Donald Trumpwieder im Weißen Haus - kein unwahrscheinliches Szenario - dann kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Nato dies nicht überlebt. Unmöglich? Warten wir es ab. Deutschland lehnt sich seit fast 75 Jahren an die Schulter von Uncle Sam. Was tun, wenn dieser zur Seite tritt?
Während wir hoffen mögen, dass das Szenario 1 sticht, weil es die geringsten Verwerfungen beinhaltet, so müssen wir im Sinne einer strategischen Vorausschau doch das Undenkbare des Szenarios 2 zu denken anfangen. Auch ein großer Staatenkrieg mitten in Europaschien den meisten noch zu Jahresanfang völlig undenkbar.
In Fragen von Leben und Tod verlässt man sich am besten und in erster Linie konsequent auf sich selbst. Das heißt konkret, dass wir endlich regelmäßige und realistische Lageeinschätzungen für die Rahmenbedingungen deutscher Sicherheitspolitik in der Hauptstadt brauchen, zum Beispiel durch einen Bericht zur Lage der Nation, einen institutionellen, nationalen Sicherheitsberater oder einen deutlich modifizierten Bundessicherheitsrat. Warum geht hier noch immer fast nichts voran? Festzuhalten ist: Wir müssen gesamtstaatliche Sicherheitsvorsorge viel umfassender denken (Militär, Energie, KRITIS und Bevölkerungsschutz, Cyber, Migrationen, Schutz unserer Seewege usw).
Man darf bei den Lagebildern nicht stehen bleiben. Nötig ist ein Sofortprogramm für die Streitkräfte, das die dringendsten Defizite ohne jede weitere Verzögerung sofort angehen muss. Dazu gehört unter temporärem Absehen von den üblichen Vergabewegen die sofortige Schaffung einer durch Wirtschaftspraktiker geführten, temporären Beschaffungsagentur mit dem Zweck von Tempo, also zum Beispiel die sofortige Erhöhung von Munitionsbeständen und Wirkmitteln, idealerweise durch die Restkerne der deutschen Rüstungsindustrie und wo unvermeidbar durch die Industrien anderer Länder. Der Volkssport des oftmals höhnischen und gewollten Abbaus unserer letzten Rüstungskerne muss gestoppt werden. Dies ist prioritäre Aufgabe der beteiligten Ministerien unter Initiative des Kanzleramtes.
Deutschland ist ein Land geworden, in dem alle zwar gerne verteidigt werden wollen, aber selten jemand dazu einen Eigenbeitrag erbringen möchte. Nicht nur die Politik, die ganze Gesellschaft steht vor der Klärung der Frage, ob und wie sie in einer Welt dramatisch zunehmender Konfliktentwicklungen überleben möchte. So wie es ist, kann es nicht bleiben. Es muss unter anderem dringend das Projekt einer allgemeinen Dienstpflicht für junge Frauen und Männer angegangen werden, bei dem es möglich sein sollte, zumindest sechs oder acht Monate bei Streitkräften, THW, Feuerwehren oder einer Grenzpolizei-Reserve einen (Regel-) Dienst zu leisten, der die Verletzlichkeit des Landes an so vielen Stellen reduzieren könnte.
Für die Streitkräfte muss neu überlegt werden, was sie können sollen. Als mit Abstand größte Nation in Europa mit 84 Millionen Menschen sollte es möglich sein, zum Rückgrat einer europäischen Verteidigung zu werden, was Rüstungskooperationen und pooling and sharing mit gleichgesinnten EU-Staaten nicht ausschließt. Dennoch muss Deutschland vorangehen und für zentrale Bereiche, zum Beispiel auch gemeinsam mit Frankreich, eine Rolle in der Führung der Union übernehmen - von der Rüstungsbeschaffung bis zur Aufstellung einsatzbereiter battle groups. Anders wird Abschreckung nicht glaubwürdig.
Die Glaubwürdigkeit der Abschreckung verlangt angesichts immer neuer nuklearer Drohgebärden aus Russlandauch, dass die Frage einer europäischen Nuklearstreitmacht neu diskutiert wird. Mit Britenund Franzosen sind zwei Mächte in Europa vorhanden, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen. Ist eine europäische Nuklearstreitmacht denkbar? (Was kostet uns der Verzicht darauf?) Welche Alternativen sind zu sehen? Die Debatten von gestern helfen nicht mehr weiter, die Herausforderungen sind jetzt nicht mehr nur theoretische, und sie werden neue Antworten verlangen.
Ja, diese Thesen wollen und sollen provozieren. Aber wer die Zu-Mutungen in ihnen nicht sehen möchte oder nicht erträgt, der soll nun umgekehrt einmal erklären, was eine Fortsetzung unserer selbstverschuldeten Misere für die Verletzlichkeit dieses Landes und seine völlig unzureichend ausgeprägte Resilienz bedeuten würde. Man darf wohl gespannt sein. Kalte Winterabende jedenfalls laden zum Nachdenken ein.

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