Oberst i.G. Michael Angerer, seit 2021 Leiter des Referats Politik I 3 für Fragen der Nordatlantischen Allianz im Bundesministerium der Verteidigung, skizzierte in seinem Vortrag die größten Diskussionspunkte vor dem anstehenden Washington-Gipfel. Er wies daraufhin, dass der Gipfel im regulären Präsidentschaftswahlkampf in den USA stattfindet. Der Ausgang der Wahl – und eine mögliche zweite Amtszeit Donald Trumps – stelle eine Richtungsentscheidung für die Zukunft der Allianz dar. Zudem werde es der letzte Gipfel des aktuellen Generalsekretärs Jens Stoltenberg sein, der ab dem 1. Oktober vom amtierenden niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte abgelöst wird. Wichtigstes Thema des Gipfels sei der russische Angriffskrieg und eine mögliche NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Darüber hinaus stelle sich die Frage, wie die Ukraine stärker an die Allianz gebunden werden kann.
Als zentrale Botschaft seines Vortrags betonte Oberst Angerer, dass sich die Allianz in den letzten Jahren, seit der russischen Annexion der Krim-Halbinsel im Jahre 2014, auf ihre Kernaufgabe rückbesinnt habe: Abschreckung und Verteidigung des eigenen NATO-Territoriums. Als positives Beispiel diene die Einrichtung der Enhanced Forward Battle Groups, die mittlerweile auf den Status von Einsatzbrigaden aufgestockt wurden. Deutschland leiste mit der Entsendung einer Kampfbrigade nach Litauen einen wertvollen Beitrag.
„Wir sind sehr weit gekommen in den letzten Jahren. Wir haben Enormes geleistet, aber wir müssen uns zugestehen, dass es noch Lücken gibt. Ein großes Problem ist und bleibt die personelle Versorgung der Armeen in Europa.“
Ein Streitpunkt in der Zukunft sei weiterhin die Frage der Lastenverteildung (burden-sharing) innerhalb der NATO. In diesem Jahr erreichen 23 Nationen das Zwei-Prozent-Ziel – ein positives Zeichen für die Allianz. Oberst Angerer wies aber darauf hin, dass es in allen Armeen der Allianz, mit Ausnahme der amerikanischen, Defizite in der Personalausstattung gebe. Besonders in Deutschland werde weiteres Geld zur glaubhaften Verteidigung und Abschreckung benötigt. Dies sei wesentlich für die Raison d’être der Allianz: die europäische und transatlantische Sicherheit.
„Die Europäer müssen noch mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen. Wir können uns nicht mehr ausschließlich auf amerikanische Sicherheitsgarantien verlassen. Europa hat jetzt die Chance, sich um die eigene Sicherheit zu kümmern.“
Impressionen von Julian Schneider. Er ist wissenschaftliche Hilfskraft an der Henry-Kissinger-Professur für Sicherheits- und Strategieforschung am CASSIS. Er studiert im Doppelstudium den Master Strategy and International Security sowie den Bachelor Asienwissenschaften mit dem Profil Sinologie an der Universität Bonn. Seine Interessensschwerpunkte liegen im Bereich der transatlantischen Beziehungen, der deutschen Außenpolitik sowie der Geschichte Chinas.