Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und deren Folgen werfen die Frage nach politischer Führung in Europa auf. Die Protagonisten sind Frankreichs Macron und Deutschlands Scholz - doch der Franzose ist dabei im Vorteil. Politik-Experte Landry Charrier erklärt ihn.
Die deutsche Öffentlichkeit besitzt ein erstaunliches Talent darin, mit großer Aufregung Themen zu diskutieren, die vom eigentlichen Problem ablenken. Ist sie sich bewusst, dass die Lage in der Ukraine ernst ist, dass Russland weitere Teile des Landes erobern könnte, wenn die militärische Unterstützung des Westens nicht sehr viel schneller und stärker wird?
Emmanuel Macron ist an Klarheit nicht zu überbieten und er hat Recht: „Ein Sieg Russlands wäre das Ende der europäischen Sicherheit“. Mit anderen Worten sagt das die Bundesregierung zwar auch, zieht aber nicht die entsprechende Konsequenz. Diese besteht darin, Russland nicht nur von einem Angriff auf die NATO glaubwürdig abzuschrecken, sondern auch von den weiteren Versuchen, die Existenz der Ukraine zu beenden.
Über Landry Charrier

Landry Charrier ist Mitglied der CNRS-Forschungseinheit SIRICE (Sorbonne, Paris), Associate Fellow am Global Governance Institute (Brüssel) sowie am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn). Seine Schwerpunkte sind die deutsch-französischen Beziehungen im globalen Kontext sowie Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik. Er ist Ko-Produzent des Frankreich-Podcasts Franko-viel und seit März 2023 Redaktionsleiter der deutsch-französischen Zeitschrift dokdoc.
Was Putin als Europas Schwäche ausgelegt hat
Der Angriff vom 24. Februar 2022 beweist doch das Versäumnis des Westens, spätestens nach der Annexion der Krim 2014 eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen. Das Ausbleiben einer entschlossenen Reaktion Frankreichs als EU-Ratsvorsitz in der Georgienkrise 2008, die Bereitschaft Deutschlands, sich in immer größere Abhängigkeit von Russland zu begeben, müssen von Putin als Zeichen der Schwäche gesehen worden sein.
Die Weigerung von Bundeskanzler Scholz, Taurus-Marschflugkörper an Kiew zu liefern und seine jüngsten Versicherungen, dass keine deutschen Soldaten in der Ukraine eingesetzt werden, folgen heute derselben Logik, der des Appeasements; die Äußerungen des französischen Präsidenten, der einen solchen Einsatz für westliche Soldaten nicht ausschließt, zeigen hingegen, dass Frankreich aus seinen Fehlern gelernt hat und bereit ist, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen: Die Zeichen stehen nun auf Abschreckung. Wer hat also Recht?
Über Hans-Dieter Heumann

Botschafter Dr. Hans-Dieter Heumann ist Senior Fellow am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn. Als Diplomat arbeitete er u.a. an den Deutschen Botschaften in Washington, Moskau und Paris, sowie im Planungs- und Leitungsstab des Auswärtigen Amtes. Zuletzt war er Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin. Dr. Heumann ist Autor von Büchern und Beiträgen zur Internationalen Politik. Er ist Biograph des ehemaligen Deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher.
Doppelte Zeitenwende?
Eigentlich steht Europa vor einer doppelten Zeitenwende: Es muss nicht nur die Abschreckung Russlands glaubwürdiger gestalten, sondern angesichts amerikanischer Unsicherheiten die eigene Handlungsfähigkeit stärken.
Die erste Aufgabe besteht darin, die Ukraine langfristig militärisch so zu unterstützen, dass sich für Russland die Fortführung des Krieges nicht mehr lohnt, und die Position der Ukraine in möglichen Verhandlungen möglichst stark ist. "Wir sollten keine Angst vor unserer eigenen Macht haben (…)“ mahnte vor wenigen Tagen die estnische Premierministerin Kaja Kallas, „die Angst vor einer Eskalation verleitet uns dazu, uns kleiner zu machen, als wir sind. Das ist falsch.“
Scholz scheint dies bis jetzt nicht verstanden zu haben.
Die zweite Aufgabe ist die Verwirklichung der „europäischen Souveränität“, über die sich Deutschland und Frankreich spätestens 2017 einig waren, bereits im ersten Amtsjahr des amerikanischen Präsidenten Donald Trump. Die Rede des französischen Präsidenten damals an der Sorbonne hatte zwar keine konzeptionelle Antwort Deutschlands gefunden, immerhin aber forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits vor Macron, dass Europa sein Schicksal in die eigene Hand nehmen müsse. Die „europäische Souveränität“ ist im Koalitionsvertrag dieser Bundesregierung verankert.
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Macron präsentierte 2022 eine neue Sicherheitsstrategie
Die wichtigste Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich aber ist wenig beachtet worden: Im November 2022, also neun Monate nach Ausbruch des russischen Krieges gegen die Ukraine, präsentierte Macron eine neue Sicherheitsstrategie Frankreichs, die „Revue nationale stratégique“, in der die europäische Verteidigung ausdrücklich als komplementär zur NATO definiert wird, d.h. als europäischer Pfeiler der NATO. Damit ist der weit zurückreichende deutsch-französische grundsätzliche Konflikt in dieser Frage grundsätzlich beigelegt. Die Präsenz der Europäer an der Ostflanke der NATO wächst, sie ist inzwischen größer als die amerikanische.
Die Bewältigung der doppelten Zeitenwende Europas benötigt politische Führung. Die Geschichte der europäischen Integration zeigt, dass sie fast immer von Deutschland und Frankreich ausgegangen ist. Dies gilt schon für die Anfänge der Europäischen Gemeinschaft im Schuman-Plan, über den Euro, die Bewältigung der Euro-Krise bis zum Wiederaufbaufonds nach der Covid-Krise.
Jetzt müssen europäische Koalitionen nicht nur zu schnellen Lieferungen von Munition, Luftabwehr, Drohnen, Kampfflugzeugen und weitreichenden Waffen an die Ukraine geschmiedet werden, sondern auch zum Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie, die nur aus der deutsch-französischen Zusammenarbeit hervorgehen kann. Macron, der gerne auf andere, bereitwilligere EU-Partner setzen würde, weiß es ganz genau. Daher der Druck auf Scholz.
Fundamentaler Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland
Die aktuellen deutsch-französischen Unstimmigkeiten sind zwar nicht überzubewerten. Sie zeigen aber einen fundamentalen Unterschied der Außen- und Sicherheitspolitik beider Länder. Der französische Präsident kann es sich (kraft der Verfassung) leisten, strategisch zu denken, der Bundeskanzler aber eben nicht. Er unterliegt dem Primat der Innenpolitik. Olaf Scholz mag zwar selbst der Überzeugung sein, dass eine Lieferung der Taurus-Marschflugkörper gefährlich ist. Er hätte aber in jedem Fall angesichts des Drucks, der von der SPD-Fraktion im Bundestag ausgeht, nur wenig Handlungsspielraum.
Deutschland wird die Zeitenwende erst vollzogen haben, wenn es die Lehren aus der Geschichte der Beziehungen mit Russland gezogen, wenn es den Primat der Innenpolitik überwunden hat und beginnt, strategisch zu denken. Erst dann können Deutschland und Frankreich wieder zu dem werden, was sie in den vergangenen 70 Jahren immer gewesen sind: die zentrale Antriebskraft in Europa.
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Experte für deutsch-französischen Beziehungen sowie Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik
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Experte für deutsch-französischen Beziehungen sowie Frankreichs Außen- und Sicherheitspolitik
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