dokdoc: Polens Premierminister Mateusz Morawiecki hat sich in den letzten Wochen immer wieder als Gegenmodell zu Emmanuel Macron und Olaf Scholz positioniert. Wofür steht Polen heute in Europa?
Monika Sus: Mateusz Morawiecki plädiert für eine EU der Nationalstaaten. An dieser Stelle unterscheidet sich die Position der polnischen Regierung stark von der deutschen und französischen. Der polnische Premierminister spricht sich gegen starke EU-Institutionen aus, betont die Bedeutung der Nationalstaaten und äußert Zweifel an der Vertiefung der EU. Er lehnt die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik ab: Das Vetorecht ist für ihn ein Sicherheitsventil, das vor Bevormundung aus Brüssel schützt.
dokdoc: Frau Sus, solche Forderungen sind an sich nicht neu. Nur, im Kontext des Krieges in der Ukraine und der anstehenden Parlamentswahl scheinen sie an Schärfe gewonnen zu haben. Werden sie von anderen Ländern geteilt bzw. glauben Sie, dass sie anschlussfähig sind?
Monika Sus: Morawieckis Vorschläge ähneln den Positionen anderer rechtskonservativer Parteien in Europa. Und solche Parteien sind in mehreren EU-Ländern seit mindestens einem Jahrzehnt auf dem Vormarsch, zuletzt in Spanien und aber auch in Frankreich, Deutschland oder Italien. Eins sollte allen klar sein: Diese Parteien bringen die Ansichten vieler europäischer Bürger zum Ausdruck. Die Angst vor einer Vertiefung der europäischen Integration zu ignorieren, wird uns am Ende nicht mehr Europa bringen. Im Gegenteil! Dabei brauchen wir gerade heute mehr Einheit! Ich sehe viele Schnittstellen für die Zusammenarbeit und glaube, dass es möglich ist, thematische Kompromisse auszuarbeiten, selbst mit Ländern, deren Regierungen konservativ sind.
dokdoc: Herr Heumann, teilen Sie diese Ansicht? Glauben Sie, dass Deutschland und Frankreich mit ihren Forderungen nach mehr Europa irren?
Hans-Dieter Heumann: Nein. Deutschland und Frankreich sind sich im Grundsatz darüber einig, dass Europäische Souveränität eine Notwendigkeit ist – anders als Polen, das auf Dekonstruktion setzt und eine Politik der maximalen Anlehnung an die USA betreibt. Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte die Europäer schon vor der Sorbonne-Rede Präsident Macrons 2017 dazu aufgefordert, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Europa und die USA haben zwar im Krieg gegen die Ukraine in einer Weise zusammengefunden, wie schon lange nicht mehr. Aber ein strategischer Blick in die Zukunft zeigt doch, dass die Priorität der amerikanischen Außenpolitik in Asien liegt. Außerdem wissen wir nicht, welche Regierung die Wahlen dort im nächsten Jahr hervorbringen.
dokdoc: Herr Charrier, die deutsch-polnischen Beziehungen scheinen einen neuen Tiefpunkt erreicht zu haben. Wie blickt man in Frankreich nach Warschau?
Landry Charrier: Die französisch-polnischen Beziehungen sind zwar nicht so kompliziert wie die zwischen Deutschland und Polen. Sie sind dennoch alles andere als einfach. Es gab zwar hier und da bedeutsame bilaterale Initiativen – wie z.B. im Kontext der Debatte um die Nutzung der Kernenergie in Europa. Dabei ist es aber auch geblieben. Der Grund: Polens Verstöße gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit. Emmanuel Macron hat seit 2017 keine Gelegenheit ausgelassen, die PiS-Regierung dafür zu kritisieren. Als Mateusz Morawiecki ihn im April 2022 für seine Telefonate mit Putin kritisierte, nannte ihn der französische Präsident einen „rechtsextremen Antisemiten, der LGBT verbietet”. Seitdem ist der Dialog noch schwieriger geworden. Polen scheint ohnehin kein großes Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit Frankreich zu haben. Und wenn schon, dann nur um einen Keil zwischen Deutschland und Frankreich zu treiben. Die Charmeoffensive, die der polnische Außenminister Zbigniew Rau im März in Le Figaro startete, zielte genau darauf ab.
dokdoc: Der polnische Außenminister Bronislaw Geremek (1997-2000) bezeichnete einmal das Weimarer Dreieck als „intelligentes politisches Instrument“. Welche Rolle kann es im gegenwärtigen Kontext spielen?
Hans-Dieter Heumann: Wie kann das Weimarer Dreieck eine solche Rolle spielen, wenn ein Mitglied sich in den grundlegenden europa- und außenpolitischen Fragen gegen die Partner stellt? Für die polnische Außenpolitik scheint das Primat der Innenpolitik zu gelten. Dies ist aber keine gute Voraussetzung, um einen Platz in der Führung Europas zu beanspruchen. Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt, dass die mittel- und osteuropäischen Staaten eine stärkere Rolle unter den Europäern spielen müssen. Das werden Deutschland und Frankreich berücksichtigen.
Landry Charrier: Innenpolitische Zusammenhänge spielen auch für Frankreich eine wichtige Rolle. Das darf man nicht aus dem Blick verlieren. Die engen Kontakte, die Marine Le Pen zum polnischen Regierungschef unterhält, sind Emmanuel Macron ein Dorn im Auge. Dass Mateusz Morawiecki ihr im Präsidentschaftswahlkampf zur Seite gesprungen ist, hat sein bereits zerrüttetes Verhältnis zum französischen Präsidenten nicht verbessert. Alles in allem bin ich nicht sonderlich zuversichtlich, was das Weimarer Dreieck betrifft, zumindest bis eine Regierung aus proeuropäischen und liberalen Kräften die jetzige abgelöst hat.
dokdoc: Trotz erheblicher Unterschiede sind sich alle drei Länder in einer Sache einig, und zwar, dass Mittel- und Osteuropa in die Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Agenda stärker einbezogen werden soll.
Monika Sus: Das ist richtig. Die völlig verfehlte Politik Frankreichs und Deutschlands gegenüber Russland, für deren Fehler die Ukraine nun bezahlt, hat gezeigt, dass es höchste Zeit ist, die MOE- und baltischen Staaten stärker zu integrieren. Das deutsch-französische Tandem hat eine wichtige Rolle gespielt, und natürlich bleiben die beiden Staaten zentral für die weitere Gestaltung der europäischen Integration. Aber es ist Zeit für eine neue Konstellation innerhalb der EU, die repräsentativer ist und die Interessen von verschiedenen Teilen Europas berücksichtigt.
dokdoc: Herr Heumann, lassen Sie uns an diese Überlegungen anknüpfen. Zbigniew Rau sagte am 17. März, „den Preis für die deutsche Gier zahlt die Ukraine heute mit ihrem Blut”. Ist der polnische Außenminister zu weit gegangen?
Hans-Dieter Heumann: Man schadet dem eigenen Anliegen, wenn man die Polemik übertreibt. Deutschland lernt aus den Fehlern seiner Ostpolitik. Dazu gehörte, die strategische Bedeutung der Energieabhängigkeit von Russland nicht erkannt zu haben. Heute hat aber Deutschland diese fast auf null reduziert.
dokdoc: Herr Charrier, im Zuge des Krieges in der Ukraine wurde immer wieder behauptet, das Gravitationszentrum Europas verschiebe sich nach Osten. Was ist an dieser These daran?
Landry Charrier: Als Frontstaat der NATO spielt Polen seit Beginn des russischen Angriffskrieges eine herausgehobene Rolle – in vielerlei Hinsicht. Doch zu behaupten, dass das europäische Gravitationszentrum sich verlagert hat, greift aus meiner Sicht zu kurz. Der Krieg hat zu einer Verengung der Perspektive geführt. Es brennt nicht nur in der Ukraine, sondern an zahlreichen anderen Ecken. Emmanuel Macron ist einer der wenigen Politiker in Europa, die immer wieder daran erinnern. In seiner Rede in Straßburg am 9. Mai hat Bundeskanzler Scholz dies thematisiert und die EU dazu aufgefordert, eine 360-Grad-Perspektive einzunehmen. Ohne Europäische Souveränität wird aber Weltpolitikfähigkeit nicht möglich sein. Und hier sind Deutschland und Frankreich gefragt. Eine Alternative ist nicht erkennbar. Am Ende wird es aber darauf ankommen, ob es den beiden Ländern gelingt, Osteuropa mitzunehmen. Das schließt Polen ein.
Monika Sus: Mittel- und Osteuropa will nicht mehr „mitgenommen” werden. Ich bin der Meinung, dass ein Ansatz, bei dem Deutschland und Frankreich weiterhin der einzige Motor der europäischen Integration sind, dem sich andere Länder anschließen können, nicht mit den gegenwärtigen Realitäten übereinstimmt. Wir brauchen eine größere Koalition von Staaten, die Impulse für die Weiterentwicklung der Union geben, denn nur eine solche Koalition ist in der Lage, die Mehrheit der EU-Staaten, im Osten sowie im Westen, hinter sich zu bringen. Die sehr erfolgreiche tschechische EU-Ratspräsidentschaft im Jahre 2023 oder die äußerst aktive Rolle der baltischen Staaten zeigen, dass die Region fähig ist, die Weiterentwicklung der Europäischen Integration mitzubestimmen.
dokdoc: Herr Heumann, am Ende dieses Gesprächs möchte ich Ihnen eine Frage stellen, auf die es sicherlich keine einfache Antwort gibt: Was nun?
Hans-Dieter Heumann: Die Zukunft der Europäischen Union hängt davon ab, ob sie auch diesmal in der Lage ist, aus ihren Krisen zu lernen. Der Krieg in der Ukraine hat eine Mehrheit der Europäer dazu gebracht, eigene Anstrengungen auch in der Sicherheitspolitik zu fordern. Der Weg zu einer größeren Handlungsfähigkeit Europas ist vorgezeichnet. Wie immer in der Geschichte der europäischen Integration braucht es eine gewisse Führung, damit er gegangen werden kann. Deutschland und Frankreich haben beide in einer Art „Zeitenwende“ begriffen, dass sie eine größere Koalition hierfür brauchen, vor allem von Staaten aus Mittel- und Osteuropa. Polen kann hierbei eine besondere Rolle spielen.