Alle islamistischen Führer beschwören immer wieder die Signifikanz der muslimischen Umma, also der globalen religiösen Gemeinschaft der Muslime. Auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan lässt keine Möglichkeit aus, die Bedeutung dieser Gemeinschaft für den Islam und die Welt zu betonen. Derzeit können wir beobachten, wie bedeutungsentleert die Rede von der islamischen Umma ist. Vor allem die gegenwärtige Syrien-Politik der Türkei zeigt, dass die vielbeschworene Umma und der Islam den politischen Interessen folgen müssen und nicht umgekehrt.

Ankara scheute keine militärischen Mühen, um das Assad-Regime in Syrien ab 2011 zu stürzen. Zuvor, von 2007 bis 2010, verfolgte die Türkei eine Politik der "Nullprobleme" mit ihren Nachbarn und versuchte sich sogar als Mediatorin zwischen Israel und den arabischen Staaten. Die Unterstützung der Freien Syrischen Armee (FSA) durch die Türkei ab 2012 zeigte, dass der Sturz des syrischen Machthabers Bashar al-Assad zur obersten Priorität in der türkischen Außenpolitik geworden war.
Ganz deutlich wurde das, als Ankara begann, jihadistische Gruppen zum Erreichen ihrer außenpolitischen Ziele zu unterstützen. Beispielsweise wurde mit Jihadisten kooperiert, deren Beziehung zu Osama bin Ladens Terrororganisation Al-Kaida bekannt war. Parallel dazu wurden jihadistische Kämpfer nicht daran gehindert, über türkisches Territorium nach Syrien zu gelangen und sich dort den Reihen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) anzuschließen. Obwohl bekannt war, dass diese jihadistischen Gruppen Menschen in der Region, die ihre religiösen Ansichten nicht teilen, unbarmherzig versklaven oder töten würden, entschied sich der Nato-Staat, dass die eigenen politischen Ziele eine solche Handlung rechtfertigen würden. Zu dieser Annahme führten die Entwicklungen des "Arabischen Frühlings". Autoritäre Machthaber wurden damals fast über Nacht hinweggefegt.
Falsch eingeschätzt
Ankara hatte die Ambitionen Moskaus und des Iran falsch eingeschätzt und nahm ohne zu zögern eine große Anzahl syrischer Flüchtlinge auf. Dies hatte zwei wichtige Ziele. Zum einen sollte damit deutlich gemacht werden, dass die Türkei die Bedeutung der Umma ernst nimmt und die Glaubensgeschwister vor den Gräueln des Bürgerkriegs schützen will. In diesem Zusammenhang wurden den syrischen Flüchtlingen auch viele Vorteile des türkischen Wohlfahrtsstaats gewährt. Zum anderen hätten die Flüchtlinge nach Erreichen der politischen Ziele ihr Land neu aufbauen und sich an die Rolle der Türkei im Konflikt erinnern und somit zu einer neuen Bündnispolitik beitragen können. Die Realpolitik machte der Außenpolitik von Erdoğans Partei AKP jedoch einen Strich durch die Rechnung.
Heute gibt es in der Türkei und auch innerhalb der türkischen Diaspora Diskussionen, ob die vielen Syrerinnen und Syrer in der Türkei die kemalistische Republik in einen arabischen Staat transformieren könnten. Viele türkische Bürgerinnen und Bürger gehen auch davon aus, dass die noch im Land verbliebenen Syrerinnen und Syrer nicht mehr zurückkehren werden. Damaskus kann sich zurücklehnen und ohne viel Sorge die Lage beobachten, weil für Assad eine Rückkehr seiner Bürgerinnen und Bürger nur unter der Voraussetzung stattfinden kann, dass sich die türkische Armee vollständig von seinem Territorium zurückzieht.
Um das außenpolitische Fiasko zu kaschieren, versucht die AKP mit ihrer antisemitischen und antiisraelischen Politik die Öffentlichkeit von den Fehlern der Vergangenheit abzulenken. Hierzu wurden in den letzten Wochen militärische Eingriffe im Irak durchgeführt, um die verschiedenen Offensiven der türkischen Armee seit 2012 für beendet zu erklären und damit Erdoğan seine fehlgeschlagene Außenpolitik als Sieg verbuchen kann.
Politisches Fiasko
Ebenso sind die gegenwärtigen außenpolitischen Handlungen der Türkei mit Blick auf Syrien davon abhängig, dass Ankara auf die politischen Entwicklungen in Washington reagiert. Sollte Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt werden, so könnte Erdoğan wie in der Vergangenheit versuchen, diesen davon zu überzeugen, in der Region weniger US-Truppenpräsenz zu zeigen. Bei Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris ist dies weniger wahrscheinlich.
Die Annäherung an Assad versucht das politische Fiasko seit 2011 zu verschleiern, und die Unterstützung der Hamas seit dem 7. Oktober zeigt, dass Erdoğans personalisierte Außenpolitik kein Ende hat, solange er die Türkei regiert. (Hüseyin Çiçek, 7.8.2024)