Die Europäische Politische Gemeinschaft hat mit dem am 6. Oktober stattgefundenen ersten Treffen in Prag eine Dialogplattform geschaffen. Damit können Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihren osteuropäischen Partnern die Hand reichen. Jedoch haben Deutschland und Frankreich unterschiedliche historische Beziehungen und Vorstellungen zu Osteuropa. Im Angesichts des Ukrainekriegs, kann eine gemeinsame Linie definiert werden?
„Das Angebot traf auf einen Bedarf“, schrieb ein französischer Analyst wenige Stunden nach Abschluss des Gründungstreffens der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) am 6. Oktober 2022 in Prag. Dabei war der Vorschlag, den Emmanuel Macron fünf Monate zuvor im Europaparlament unterbreitet hatte, von vielen mit einer gewissen Skepsis, wenn nicht mit Ablehnung aufgenommen worden. Frankreich wolle mit dieser schlecht durchdachten Idee die EU-Erweiterung blockieren bzw. einen Zwischenraum einrichten, in dem Beitrittskandidaten bis in alle Ewigkeit auf Verhandlungen warten werden. Das Projekt werde ähnlich früheren französischen Vorstößen eine leere Hülse bleiben. Politisch werde es nichts Konkretes hervorbringen.
Neuer Antrieb für den Friedensprozess im Südkaukasus
Dass das Gipfeltreffen nicht mit einer offiziellen Abschlusserklärung endete, hätte an sich gereicht, um die vielfach geäußerten Vorbehalte zu bestätigen. Doch die historische Bedeutung des neuen Formats kann nicht daran gemessen werden. Zwei Bilder stehen exemplarisch für das Potenzial einer Initiative, deren Vater Emmanuel Macron, und deren Geburtshelfer Wladimir Putin ist:
zum einen das Familienfoto mit 44 Regierungschefs und -chefinnen – ein starkes Signal der Einheit und Geschlossenheit nach Moskau;
zum anderen, das Bild, das Emmanuel Macron, Charles Michel und die Staatsführer Armeniens und Aserbaidschans – Premier Nikol Paschinjan und Präsident Ilham Alijew – im Gespräch miteinander zeigt. Mehrfach hatte die EU versucht, eine Vermittlerrolle zwischen den beiden verfeindeten Ländern zu übernehmen. Prag bot die Plattform, um den Friedensprozess im Südkaukasus wieder in Gang zu bringen. Die Union ist nicht frei von Interessen in der Region. Sie braucht Öl und Gas aus Aserbaidschan und setzt für deren Lieferung auf einen „zentralen Korridor“, der den Kaukasus mit dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer verbindet. Stabilität an der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan ist für sie von zentraler Bedeutung. Fortschritte im Normalisierungsprozess zwischen den seit Jahrzehnten verfeindeten Ländern sind zwar mit der größten Vorsicht zu genießen. Tatsache ist jedoch, dass die besondere Qualität des von Macron aus der Taufe gehobenen Formats eine Koordination ermöglicht hat, die am Ende der ganzen Region, nicht zuletzt den türkisch-aserbaidschanischen Beziehungen, zugutekommen könnte. Ein Zusammentreffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit Premier Nikol Paschinjan wäre in einem anderen Kontext kaum vorstellbar gewesen, vor allem, wenn man bedenkt, welche Rolle Russland seit Anfang der 1990er Jahre in der Region spielt und wie sehr Armenien an Moskau hängt.
Wir teilen ein gemeinsames Umfeld, oft eine gemeinsame Geschichte, und wir sind dazu berufen, unsere Zukunft gemeinsam zu schreiben.
EMMANUEL MACRON IN PRAG
Europa als Schicksalsgemeinschaft
Bei seiner Ankunft in Prag sprach Emmanuel Macron von „strategischer Intimität“, um das neue Format zu beschreiben. Der Begriff ist nicht neu und wurde u.a. im Kontext seiner Afrikapolitik bereits mehrfach eingesetzt (wenn auch in einer etwas anderen Form: „initimité sécuritaire“). Auf die EPG übertragen, steht er stellvertretend für das im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine stark zutage getretene Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft. „Wir teilen ein gemeinsames Umfeld, oft eine gemeinsame Geschichte, und wir sind dazu berufen, unsere Zukunft gemeinsam zu schreiben“, sagte Macron in Prag. Ziel sei es nun, eine gemeinsame Einschätzung der geopolitischen Lage zu erzielen und darauf aufbauend Projekte in unterschiedlichen Bereichen und Formaten zu entwickeln.
EU-Außenbeauftragte Josep Borrell pflichtete ihm bei. Politische Instrumente wie die EU-Erweiterungspolitik, die europäische Nachbarschaftspolitik oder die östliche Partnerschaft reichten heute nicht mehr aus. Nur ein breit aufgestelltes Europa könne Sicherheit, Stabilität und Prosperität gewährleisten: „Dieses Treffen ist eine Möglichkeit, nach einer neuen Ordnung ohne Russland zu suchen“, erklärte Borrell. Man merke: ohne Russland, nicht gegen Russland. Macron wird dieser feine Unterschied nicht entgangen sein. Denn für ihn ist und bleibt Russland eine geographische Tatsache, mit der man umzugehen hat. Zwar gilt es jetzt, sich der neuen geopolitischen Lage zu stellen und eine Ordnung zu gründen, die ohne Russland funktioniert. Nach Ende des Krieges wird aber die Frage schnell wieder auf den Tisch kommen, voraussichtlich auf Drängen Frankreichs. Dass das dann der erste Stresstest für ein Forum sein wird, das sich in erster Linie als Allianz gegen Putin versteht, ist allen Beteiligten klar, nicht zuletzt den Osteuropäern.
EPG als „Triumpf“ Macrons für eine Art Vereinte Nationen Europas
Der britische Historiker Arnold J. Toynbee sieht im Wechsel von Herausforderung und Antwort („challenge und response“) ein Bewegungsgesetz der Geschichte. Die EPG reiht sich in diese Logik ein. Sie ist die Antwort auf eine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nie dagewesene tektonische Verschiebung. Dass kaum fünf Monate verstrichen, bis sie Wirklichkeit wurde, macht sie umso bemerkenswerter. Dabei ist der „Vorgang“ alles andere als neu.
Ein Blick zurück in die jüngste Geschichte zeigt, dass die EU aus Krisen lernt, und dass sie bereits viele Erfahrungen mit Ad-hoc-Lösungen gemacht hat. Der Euro-Rettungsschirm war einer davon, der Corona-Wiederaufbaufonds ein anderer. Was gelang, das gelang auch in der Regel, weil das deutsch-französische Tandem in der Stunde der Not funktionierte. Nun ist die EPG nicht das Ergebnis enger deutsch-französischer Konsultationen, sondern vielmehr das Resultat der von Macron betriebenen Politik der Disruption. Sie ist aber durchaus ein Instrument, mit dem Deutschland und Frankreich gut arbeiten könnten. Es könnte ihnen erlauben, das Kapital, das sie vor und im Zuge des Krieges gegenüber Osteuropa verspielt haben, zurückzugewinnen. Denn der Rahmen ist nicht in Stein gemeißelt, sondern gewollt flexibel, an den Wünschen der EPG-Mitglieder und den sich rasch verändernden Gegebenheiten anpassbar. Für die Osteuropäer, die sich in den letzten Jahren oft darüber beschwert haben, ihre Interessen und Befindlichkeiten werden nicht berücksichtigt, ist es eine gute Gelegenheit, ihre Perspektive einzubringen.
Im Nachgang seiner ereignis- und ergebnisreichen französischen Ratspräsidentschaft kann das Vorhaben der EPG in jedem Fall als europapolitischer „Triumpf“ Macrons gewertet werden, darin „eine Art Vereinte Nationen von Europa zu gründen“, wie es der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP, Alexander Graff Lambsdorff, im Interview mit dem Deutschlandfunk beschrieb.
Deutsch-französische Konturen einer Neuen Europäischen Ostpolitik
Es wird dann darauf ankommen, dass Frankreich und Deutschland hierzu eine gemeinsame Linie finden. Im Unterschied zur starken Stellung des Präsidenten in der französischen Außenpolitik muss der deutsche Bundeskanzler in Grundsatzfragen auf seine Koalitionspartner Rücksicht nehmen. Olaf Scholz gab der EPG in seiner Prager Rede zur Europapolitik vom 29. August 2022 zwar eindeutige Unterstützung, die künftige Ausrichtung der deutschen Russlandpolitik aber wird in der Koalition noch abgestimmt werden müssen. Hier trifft der Bundeskanzler, der wie sein französischer Partner immer wieder das Gespräch mit Russland sucht, auf die Grünen und Liberalen, die sich eine europäische Ordnung mit Russland offenbar nicht mehr vorstellen können.
Aber der Krieg in der Ukraine ist für die EPG gleichzeitig auch eine Chance, nicht nur mit Mitgliedern der EU, sondern auch mit strategischen Partnern wie z.B. Großbritannien oder der Türkei die Konturen einer Neuen Europäischen Ostpolitik zu zeichnen. Frankreich und Deutschland müssen hierfür allerdings ihre bisherigen Prämissen überdenken.
Es ist (...) unsere historische Pflicht, nicht etwa so zu handeln, wie wir immer gehandelt haben, und den EU-Beitritt als einzige Antwort anzusehen, sondern (…) eine historische Reflexion über die Organisation unseres Kontinents einzuleiten, die den gegenwärtigen Ereignissen gerecht wird.
EMMANUEL MACRON IN SEINER REDE AM 9. MAI VOR DEM EUROPÄISCHEN PARLAMENT IN STRASSBURG
Der französische Präsident hatte lange auf eine Sicherheitsarchitektur von „Lissabon bis Wladiwostok“ gesetzt und dabei einen integrativ-kooperativen Dialog mit Putin gepflegt. Der Höhepunkt wurde im Sommer 2019 erreicht, als er vor der Botschafterkonferenz in Paris (ohne Rücksprache mit seinen Beratern) ankündigte, man solle dem russischen Präsidenten eine strategische Option geben und „die Beziehungen mit Russland sehr grundlegend neu denken“. Der Angriffskrieg auf die Ukraine brachte einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel: er zwang Macron zu der schmerzhaften Erkenntnis, dass Russland ein Puzzlestein ist, welcher sich nur schwer in Europas Sicherheitsarchitektur einfügen lässt (s. die Fernsehdokumentation: Un président, l’Europe et la guerre, France 2, 30. Juni 2022).
Macron hat von Charles de Gaulle gelernt, man solle immer darauf achten, seine Ideen den politischen Gegebenheiten anzupassen. Das Massaker von Butscha gab schließlich den Ausschlag. Nach Wochen des Überdenkens nahm er eine gewaltige Kurskorrektur vor: „Es ist also unsere historische Pflicht, nicht etwa so zu handeln, wie wir immer gehandelt haben, und den EU-Beitritt als einzige Antwort anzusehen, sondern (…) eine historische Reflexion über die Organisation unseres Kontinents einzuleiten, die den gegenwärtigen Ereignissen gerecht wird“, sagte er in seiner Rede am 9. Mai vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.
Für Deutschland bedeutet der Krieg in der Ukraine nichts weniger als einen Bruch mit der bisherigen Ostpolitik. Ihre wichtigste Prämisse war die Annahme, dass Russland notwendiger Teil der europäischen Ordnung ist. Hierbei war Deutschland sich mit Frankreich grundsätzlich einig. So lässt sich vom „Europäischen Konzert“ des 19. Jahrhunderts, zu dem Russland selbstverständlich gehörte, ein roter Faden ziehen über Bismarck, die deutsche Ostpolitik der 1970er Jahre bis hin zur „Modernisierungspartnerschaft“ der Bundesregierung seit 2008 sowie Nord Stream 1 und 2. Diese Art von Ostpolitik musste am „System Putin“ scheitern, das nicht auf Modernisierung aus war, sondern auf Selbstbereicherung und Korruption, was schließlich auch den Westen gefährdet. Im imperialen Denken Wladimir Putins war außerdem kein Platz für das „gemeinsame Haus Europa“, das noch Michael Gorbatschows Vision war. Russland versteht sich heute als eurasische Großmacht, die in der multipolaren Welt einen eigenen Pol bildet.
Eine von Frankreich und Deutschland konzipierte Neue Europäische Ostpolitik beginnt mit der Feststellung, dass der „Schlüssel“ nicht mehr in Moskau liegt, wo ihn noch Willy Brandt und Charles de Gaulle gesehen hatten. Er liegt jetzt in Kiew. Die wirtschaftliche, politische und militärische Unterstützung der Ukraine ist die Antwort auf die Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung durch Russland. Der Konsens des Westens hierüber hat sich bisher als erstaunlich resistent gezeigt. Dies gilt nicht nur für die NATO. Die Europäische Union hat mit ihren Sanktionen, der Finanzierung von Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine sowie der Entscheidung über den Status der Ukraine als Kandidat für eine Mitgliedschaft in der EU gezeigt, dass sie zu strategischem Denken in der Lage ist. Schließlich wird die Europäische Politische Gemeinschaft den Rahmen für eine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit der Ukraine bilden können. Die Konturen einer Neuen Europäischen Ostpolitik, die auch andere Mitglieder der früheren Östlichen Partnerschaft umfassen kann, werden sichtbar. Die Sicherheit in Europa wird in der Tat zuerst gegen Russland organisiert. Nach dem Krieg wird man mit Russland verhandeln müssen. Dabei können die Erfahrungen der alten Ostpolitik, vor allem bei Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung, wiederum nützlich sein.