Der von Emmanuel Macron in seiner Sorbonne-Rede 2017 geprägte Begriff der „europäischen Souveränität“ ist oft missverstanden worden. Übersetzen ließe er sich am besten mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit Europas. Es stellt sich hiernach die Frage, wie Europa sich in einer multipolaren Welt behaupten kann – gegenüber China und Russland, aber auch gegenüber den USA. Diese Frage hatte sich nicht nur Frankreich, sondern schon 2016 die Europäische Union in ihrer Globalen Strategie für die Außen- und Sicherheitspolitik gestellt. Macrons engste Partnerin in Europa, die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, legte Ende Juni 2017 den eigentlichen Hintergrund der Forderung Macrons offen: die Politik des „America First“ des damaligen Präsidenten der USA, Donald Trump. „Die Zeiten, in denen wir uns völlig auf andere verlassen konnten, die sind ein Stück vorbei“, so Merkel damals.
Es war dann nur konsequent, dass das Konzept der europäischen Souveränität Ende 2021 Eingang fand in den Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Noch in seiner europapolitischen Grundsatzrede im August 2022 in Prag unterstützte ihr Nachfolger, Olaf Scholz, ausdrücklich das französische Konzept. Auch wenn ihm vor allem die mittel- und osteuropäischen Staaten mit Skepsis begegneten und viele Fragen der Umsetzung offenbleiben, war es im Begriff, sich im europäischen Diskurs als Leitbild durchzusetzen.
Mit dem Krieg in der Ukraine und dem Übergang zu einer konfrontativen Sicherheitsordnung scheinen die Hoffnungen auf europäische Souveränität geplatzt zu sein. Bereits 2021 hatte die vom französischen Verteidigungsministerium durchgeführte Actualisation stratégique vor einer „strategischen Herabstufung Frankreichs und Europas“ gewarnt. Nun – so die Ansicht vieler Analystinnen und Analysten – habe der Angriff Russlands auf die Ukraine offenbart: Europa ist alleine nicht überlebensfähig. Ohne den Beistand der USA wehte die russische Fahne schon längst in Kiew. Die nächste Eroberung wäre dann nur noch eine Frage der Zeit. Militärisch ist gegen diese These wenig einzuwenden. Daraus aber den Schluss zu ziehen, „die USA haben das Schicksal Europas wieder in die Hand genommen“, die Agenda für eine eigenständige Europäische Union solle also aufgegeben werden, ist allerdings zu kurz gegriffen, gar gefährlich.
Der Krieg in der Ukraine wirkt auf viele Europäerinnen und Europäer wie ein Betäubungsmittel. Er nährt die Illusion, dass das Engagement der USA von Dauer sein werde. Dabei hat die am 12. Oktober2022 veröffentlichte National Security Strategy der USA eine klare Sprache gesprochen: China ist und bleibt, laut US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, die „umfassendste und ernsthafteste Herausforderung für die nationale Sicherheit der USA“. In diesem Zusammenhang wird der „Schwenk nach Europa“ nur ein kurzes Intermezzo sein. Die Erwartungen an die Europäer, mehr für die eigene Sicherheit zu tun, dürften mit der Zuspitzung der strategischen Rivalität zwischen den USA und China immer größer werden. Eng damit verbunden ist die Erkenntnis, dass die USA in Zukunft gleich in mehrere weit voneinander entfernte Konflikte verwickelt werden könnten – und das womöglich zeitgleich.
Des Weiteren werden die USA in den nächsten Jahren mit der Konsolidierung der Demokratie zu Hause beschäftigt sein. Dies könnte am Ende ebenfalls die amerikanische Handlungsfähigkeit einschränken. Bereits im Kontext der Zwischenwahlen hatten zahlreiche Republikaner eine Kürzung der Ukraine-Hilfe gefordert und bei vielen Wählerinnen und Wählern damit gepunktet. Solche Töne könnten in Zukunft auf noch größere Resonanz stoßen.
Weitere Aspekte drängen dazu, dass von vielen für tot erklärte Streben nach europäischer Souveränität als dringende Notwendigkeit zu betrachten: Bei den Zwischenwahlen ist die gefürchtete rote Welle zwar ausgeblieben, der Ausgang der Präsidentschaftswahl 2024 ist jedoch völlig offen. Auf Seiten der Republikaner finden sich genügend Kandidaten, die radikaler als Donald Trump sind und eine noch größere Gefahr darstellen könnten, sollte ihnen der Einzug ins Weiße Haus gelingen.
Doch auch Joe Biden verfolgt „America first“ in der Außenpolitik. Macron musste dies am eigenen Leib erfahren, als die USA im September 2021 bekannt gaben, gemeinsam mit Australien und Großbritannien eine neue sicherheitspolitische Allianz (AUKUS) besiegelt zu haben. Frankreich, das zwei Jahre zuvor ein Abkommen über die Lieferung von U-Booten im Umfang von 56 Milliarden Euro mit Australien abgeschlossen hatte, fühlte sich düpiert und rief seinen Botschafter aus Washington zurück. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte der bilateralen Beziehungen und der Beginn einer „Eiszeit“, die zwar zeitlich begrenzt war, am Ende aber tiefe Spuren hinterließ.
Die These vom geplatzten Traum der europäischen Souveränität beruht auf einem Missverständnis. Die Europäische Union beansprucht nicht, autonom die kollektive Sicherheit in Europa sowie die Landes- und Bündnisverteidigung zu garantieren. NATO und EU sind hierbei vielmehr komplementär. Hierüber besteht schon seit langem ein transatlantischer Konsens – auch in Frankreich. In seiner neuen sicherheitspolitischen Strategie, der Revue Nationale Stratégique, bestätigt das französische Verteidigungsministerium dies gleich an mehreren Stellen. Angesichts des russischen Krieges in der Ukraine sei klar, dass die NATO das Fundament der kollektiven Sicherheit ist und die USA den größten Teil dieser Sicherheit bereitstellt.
Wie kann aber Europa seine Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen? Die NATO schützt das Bündnisgebiet, aber wird nicht den einzigen Beitrag zum Aufbau einer neuen europäischen Ordnung nach dem Krieg in der Ukraine leisten. Diese Aufgabe wird nicht nur darin bestehen, den richtigen Umgang mit Russland zu finden, sondern vor allem darin, der Ukraine eine Zukunft in dieser Ordnung zu sichern. Die Europäische Union hat hiermit bereits begonnen. Vor allem ihre wirtschaftlichen Sanktionen haben Russland geschwächt und bekommen hiermit eine strategische Dimension. Die Präsidentin der russischen Zentralbank, Elvira Nabiullina, hat dies kürzlich sogar vor Abgeordneten der Duma bestätigt und die Sanktionen als „sehr mächtig“ bezeichnet. Schließlich wird die EU mit der Reduzierung ihrer Abhängigkeit von russischer Energie nicht nur Russland weiter schwächen, sondern sich selbst stärken.
Für die Ukraine leistet die EU zum ersten Mal in ihrer Geschichte direkte militärische Unterstützung. Sie finanziert die Lieferung von Waffen und wird vorerst circa 15 000 ukrainische Soldaten ausbilden. Hiermit wird die EU zum sicherheitspolitischen Akteur. Auch die Perspektive eines EU-Beitritts der Ukraine ist eine strategische Entscheidung, so wie es sie in der Geschichte der europäischen Integration schon mehrfach gegeben hat, etwa bei Griechenland, Spanien, Portugal oder bei den mittel- und osteuropäischen Staaten. Sie ist auch die Voraussetzung eines erfolgreichen Wiederaufbaus der Ukraine, der bereits während des Krieges beginnt. Die Ukraine wird schließlich auch einen zentralen Platz in der von Frankreich vorgeschlagenen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) einnehmen. Diese ist eben kein Ersatz einer Mitgliedschaft in der EU, sondern kann ein sicherheitspolitisches Instrument werden, mit dem strategisch wichtige Partner, wie zum Beispiel die Türkei oder Großbritannien ebenfalls eingebunden werden können.
Die Ukraine nimmt ihr von der Charta der Vereinten Nationen verbrieftes Recht auf Selbstverteidigung gegen einen russischen Vernichtungskrieg wahr. Vor allem aber verteidigt sie im eigenen Land nicht nur die europäischen Werte, sondern auch die europäische Sicherheit. Die Glaubwürdigkeit Europas hängt daran, sich hierzu nicht nur zu bekennen, sondern mit der Ukraine eine umfassende Sicherheitspartnerschaft einzugehen, so wie sie im Kyiv Security Compact bereits sehr konkret beschrieben wird. Dann hätte Europa auch seine Handlungsfähigkeit bewiesen.
In den Worten der alten Ostpolitik der Siebzigerjahre würde der „Schlüssel“ also nicht mehr in Moskau, sondern in der Ukraine liegen. Auf diese Formel könnte man eine neue europäische Ostpolitik bringen. Sie bedarf der Führung durch die Staaten, die in der Geschichte der europäischen Integration immer wieder die Initiative übernommen haben: Deutschland und Frankreich. Ihre jetzt aufgetretenen Differenzen dürfen nicht vergessen lassen, dass beide Staaten in der Reaktion auf den Krieg in der Ukraine gelernt haben. Präsident Macron zeigt dies in seiner neuen Sicherheitsstrategie. Bundeskanzler Scholz verkündete drei Tage nach Ausbruch des Krieges, am 27. Februar 2022 eine „Zeitenwende“. Es wird nun Aufgabe der für Anfang nächsten Jahres angekündigten Nationalen Sicherheitsstrategie sein, gemeinsam mit Frankreich die Inhalte einer europäischen Souveränität zu definieren.