Prof. Ulrich Schlie in einem Interview mit dem Kölner Stadt-Anzeiger zu der Eskalation im Ukraine-Konflikt.
Herr Professor Schlie, wie überrascht waren sie heute von der Eskalation in der Ukraine-Krise?
Die Überraschung fand nicht heute Morgen statt, sondern war bereits vor drei Tagen zu erkennen, als Putin die sogenannte Volksrepubliken Donezk und Luhansk anerkannte. Das ist ein Szenario, dass den Krieg nach Europa zurückgebracht hat, zudem eklatante Völkerrechtsverstöße beinhaltet und die Unabhängigkeit der Ukraine infrage stellt.
Worum geht es Putin in diesem Krieg? Was sind seine Ziele?
Putin hat territoriale und machtpolitische Ziele. Er wird in kürzerer Zeit vermutlich ein Satelliten-Regime in Kiew installieren. Es geht ihm um eine Revision der Geschichte und darum, die große historische Niederlage beim Zerfall der Sowjetunion 1991 ein Stück weit rückgängig zu machen.
Wie weit wird Putin gehen? Sind weitere Staaten, die einst zur Sowjetunion gehörten, etwa Moldau oder das Baltikum, bedroht?
Wir müssen mit der Formulierung: "Das kann ich mir nicht vorstellen" vorsichtig sein. Vieles, was wir uns nicht vorstellen konnten, ist Wirklichkeit geworden. Wenn wir Putin rationales Handeln unterstellen, hat er momentan alle seine Ziele erreicht. Er wäre schlecht beraten, einen Artikel-5-Fall des Washingtoner Vertrages zu provozieren. Wenn er ein Nato-Land angreifen würde, müssten die übrigen Nato-Länder diesem beistehen. Putin hat aber mit dieser Aktion eine grundlegende Veränderung der Sicherheitsarchitektur in Europa hervorgerufen. Es handelt sich um den tiefsten Einschnitt seit dem Zusammenbruch der Ordnung von Jalta 1989/1990. Das wird Konsequenzen für die Ausrichtung der Nordatlantischen Allianz und für die Frage des europäischen Zusammenhalts und die Verteidigung Europas haben.
Wie sollte der Westen reagieren?
Der Westen hat schon reagiert, in dem die Europäische Union Sanktionsbeschlüsse vorbereitet hat. Man muss auf das Schlimmste vorbereitet sein, daher muss die Nordatlantische Allianz enger zusammenrücken. Wir dürfen uns keine Gefechte innerhalb des Bündnisses leisten. Das neue Szenario hat aber auch Konsequenzen, wenn man auf die Region China schaut. Es wird Folgen für die Arbeit im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen haben und für das Verhältnis der USA und Europa. Wir werden innerhalb der Europäischen Union einiges zu diskutieren haben, damit wir mit einer Stimme sprechen können.
Glauben Sie, dass Putin sich von Sanktionen beeindrucken lässt?
Ich gehe davon aus, dass Putin die Sanktionen schon eingepreist hat. Sanktionen als Instrument sind von begrenzter Wirksamkeit. Sie sind umso wirksamer, je einiger die Staatengemeinschaft sie durchsetzt.
Welche Konsequenzen meinen Sie?
Wir müssen daran gewöhnen, dass wir aufgrund dieser neuen Situation die gesamte Sicherheitsarchitektur neu betrachten müssen. Es ist sicher noch zu früh zu sagen, dass wir uns in einem neuen Kalten Krieg befinden. Wir sind aber in einem völlig neuen Zeitalter und müssen unsere Instrumente neu bewerten. Die erste Konsequenz wird sein, dass die Nordatlantische Allianz eine deutlichere Sprache gegenüber Russland finden muss. Man muss die Systemrivalität, die zu Russland und China bestehen, beim Namen nennen. Es wird Konsequenzen haben, was die Zusammenarbeit zwischen Nato und EU betrifft. Beide müssen noch enger zusammenrücken. Auch die neutralen Staaten wie Österreich und Irland müssen sich fragen, wie ihre Neutralität in einer sich verändernden Sicherheitsordnung aussehen kann.
Müsste Deutschland mehr in seine Verteidigung investieren?
Ich glaube, dass Debatten darüber, ob wir zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Verteidigung ausgeben, obsolet geworden sind. Auch die Frage, ob Nord Stream 2 eine wirtschaftliche oder eine strategische Dimension hat, ist überholt. Über vieles muss man nicht mehr sprechen, weil es von der Geschichte beantwortet wurde. Wir müssen uns fragen: wie stellen wir uns innerhalb des Bündnisses auf? Wie statten wir die Bundeswehr aus, damit sie ihren Auftrag erfüllen kann? Wenn sich der strategische Rahmen verändert, dann verändert sich auch der Auftrag.
Die Invasion ist eine schallende Ohrfeige für die westlichen Diplomaten, auch für Bundeskanzler Scholz. Hat sich der Westen, also auch Deutschland, von Putin an der Nase herumführen lassen?
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich glaube, es war richtig, der Diplomatie eine Chance zu geben. Man sollte sich aber nicht selbst von Fehlern freisprechen. Putin hat ganz genau das Versagen des Westens, etwa beim überstürzten Abzug aus Afghanistan, beobachtet. Und er hat diesen Zeitpunkt kühl kalkulierend gesucht. Dieser Zeitpunkt, daran gibt es nichts schön zu reden, hat auch mit der Schwäche des Westens zu tun.
Wie gehen wir denn mit Russland künftig um?
Wenn Vertrauen in einem solchen Umfang zerstört worden ist, kann es nicht über Nacht wieder hergestellt werden. Aber auch in den kältesten Phasen des Kalten Krieges, 1953 und 1961, war es wichtig, dass Gesprächskanäle offenstanden. Offene Gesprächskanäle heißt aber nicht, dass man zum "business as usual" zurückkehren kann. Viele Foren des Austausches werden wohl zunächst eingefroren werden. Es ist nun die Frage, welchen Beitrag Putin im Gespräch mit den Vereinten Nationen, den USA und der EU leisten will, um Vertrauen wieder aufzubauen.
Das Gespräch führte Dirk Riße